Full text: Der Parallelismus zwischen Chateaubriand und Lamartine

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Gott zeigt sich uns nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar durch 
unsere Vernunft und durch die ewige Offenbarung in der Natur. 88 ) 
Diese Wandlung seiner religiösen Anschauungen kommt dem 
Dichter selbt erst allmählich zum Bewufstsein: „. . . . il se fait 
depuis deux ans en moi un grand et secret travail qui renouvelle 
et change mes convictions sur tout. Je crois que nous sommes 
dans le faux, et que les hommes ont mele trop d’humanite ä 
l’idee divine. Une reforme est indispensable au monde religieux 
plus qu’au monde politique. Quand mes pensees seront müres, je 
les laisserai tomber, comme le doit tout arbre fertile“. 89 ) Im 
Jocelyn und hauptsächlich in der achten Vision von „La chute 
d’un ange“ übergab der Dichter diese Frucht seiner jahrelangen 
inneren Arbeit der Welt. 
Sein neuer Standpunkt der Offenbarung Gottes gegenüber 
brachte ihm häufig — und zwar nicht ohne allen Anschein von 
Berechtigung — den Vorwurf des Pantheismus ein. Aber Lamar 
tine selbst weist ihn in dem Postskriptum zur Jocelyn-Vorrede so 
wie in dem Vorworte zur zweiten Ausgabe der „Chute d’un ange“ 
und auch bei anderen Gelegenheiten 90 ) aufs nachdrücklichste zu 
rück. Er will Gott nur sichtbarer, der Vernunft fafsbarer machen. 
Er erstrebt eine „union complete de la raison et de la religion 
dans l’ceuvre d’adoration et de sanctification“; 91 ) die Menschen 
sollen in das Heiligtum der Religion eintreten können, ohne ihre 
Vernunft vor den Türen des Tempels lassen zu müssen, wie die 
Mohammedaner ihre Sandalen; 91 ) die Vernunft soll religiös und die 
Religion vernunftgemäfs werden. 91 ) Es soll der Glaube also ein 
mehr innerlicher werden und nicht an Dogmen kleben, die doch 
nur Menschen werk und deshalb vergänglich sind. Die Wertlosigkeit 
dieser sog. „ewigen 0 Doktrinen ist ihm auf seiner Orientreise so 
recht zum Bewufstsein gekommen; er hat gesehen, wie in diesem 
Lande der Reihe nach alle Religionen geherrscht haben, und wie 
bisweilen in demselben Tempel drei oder vier Male einem anderen 
Gotte Anbetung dargebracht war. Vor allen Dingen aber hat der 
Mohammedanismus mit der grofsen Einfachheit seines Dogmas und 
mit seiner Toleranz einen nachaltigen Eindruck auf ihn gemacht. 
Diesen „christlichen Rationalismus“ (wie Lamartine selbst 
seinen Glaubensstandpunkt bezeichnet), vertritt der Dichter, wie 
schon erwähnt, in seinen Werken aus jener Zeit (Jocelyn und La 
chute d’un ange) und macht ihn zur Grundlage seiner Politik. 
Sein Ideal ist es, geistig freie Menschen zu erziehen, mit einem 
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