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zerstört und mit der kalten, verstandesgeinäfsen Reflexion, die sie
einfülirte, das Gefühl, das Empfinden für das Schöne und Edle,
für das Ideale ertötet hat. Lamartine hatte nicht, wie Chateau
briand, zu kämpfen, um sich zu diesem Standpunkte durchzuringen.
Seine Erziehung war eine durchaus religiöse und fiel zu einem
nicht unwesentlichen Teile in Zeiten, wo das Ansehen der Ency-
klopädisten mindestens schon erschüttert war. Er konnte an
Chateaubriands G. d. ch. anknüpfen, dessen Lehren im Gegensätze
zu denen der kalt berechnenden Philosophie des 18. Jahrhunderts
seinem gefühlshungrigen Innenleben entsprachen. Indessen voll
zieht sich ihm die Abkehr von diesen offenbar zu langsam; sie
haben im Volke zu tief Wurzeln gefafst: sein Suchen nach gleich
gestimmten Seelen ist vergebens, und enttäuscht verwünscht er
das unselige Geschick, das ihn in einem Jahrhundert der exacten
Wissenschaften hat zur Welt kommen lassen. 35 ) In einer seiner
ersten Meditationen, in der 1817 entstandenen „Ode“ stimmt er
eine laute Wehklage über das durch das ausgehende 18. Jahr
hundert verschuldete Unglück seines Vaterlandes an. Auch ihm
ist nach diesem Gedichte das 17. Jahrhundert mit seinen „arts
enchanteurs“ das „siede unique,“ während es dem verderblichen
Einflüsse des berechnenden, gefühlslosen 18. Jahrhundert zuzu
schreiben ist, dafs die zeitgenössische Generation ein freudloses
und reizloses Dasein führt.
Dieses Urteil Lamartines blieb sein ganzes Leben hindurch
dasselbe; denn wie er 1817 mit Chateaubriand 36 ) gesprochen hatte
„Toujours les siecles du genie — Sont donc les siecles des vertus!“ 37 ),
so rief er noch 1840, als er mitten im politischen Getriebe stand,
aus: „Honte aux siecles critiques!“ 38 )
Rousseau und Bernardin de St-Pierre gegenüber nahm er
eine von der Chateaubriands abweichende Stellung ein. Beide
sind auch ihm einflufsreiche Lehrer gewesen 39 ), aber im Gegen
sätze zu Chateaubriand zollte er ihnen bis zu seinem Lebensabend
die gebührende Verehrung und den schuldigen Dank. Ein wie
ehrendes Denkmal hat er nicht dem Dichter der „Paul et Virginie“
in seiner „Graziella“ geschaffen!
Es lag allerdings der Grund, aus dem heraus Chateaubriands
Abneigung gegen Rousseau und St-Pierre entstand, die Eifersucht,
für Lamartine nicht mehr vor, oder doch in sehr abgeschwächtem
Mafse. Chateaubriand stand seinen beiden Vorgängern zeitlich
gehr nahe, und die Kritik wird häufig die Lehrer in Verbindung