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sieh bei ihr vielmehr um eine Erkrankung des gesamten
Nervensystems, besonders des Großhirns handle, um eine
sogenannte Neurose. Und wenn ihm auch die einzelnen
hysterischen Krankheitserscheinungen noch nicht klar waren,
so gelang es ihm doch die Welt von der Richtigkeit seiner
Behauptungen zu überzeugen und sie endlich von der Ansicht,
daß die Hysterie mit dem Geschlechtsleben des Weibes in
inniger Beziehung stände, frei zu machen. Briquets Schüler
ergänzten die Forschungen ihres Lehrers,' und besonders
Pit res, Richer, de la Tourette u. A. waren es, die
allmählich die Anschauung gewannen, daß die Hysterie vor
wiegend eine psychische Erkrankung sei. So wurde aus
der Neurose eine Psychose. Daß aber eine Psychose ebenso
gut Männer und Kinder wie Frauen befallen könne,
darüber war man sich sofort klar und man begann den alten,
bereits in Vergessenheit geratenen Lehren Charles Lepois’
und Sydenhams wieder Beachtung zu schenken. Und
als dann Briquet 1 ) schließlich ein großes und unanfecht
bares Material heranbrachte, wo er über hysterische Er
krankungen berichtete, mußte man das Vorkommen der
Hysterie bei Männern und Kindern endlich zugeben.
Seit der Zeit beschäftigte man sich mit dieser Frage,
und es ist sowohl über die Hysterie bei Männern als bei
Kindern schon mehrfach geschrieben worden. Wenn ich
trotzdem noch einmal dieses Gebiet betrete und mich über
die kindliche Hysterie auslasse, so thue ich das, weil
diese Krankheit in ihren verschiedenen Erscheinungsformen
immer noch nicht so bekannt ist, wie sie es schon bei ihrer
relativen Häufigkeit verdient. Woher kommt das aber? Ist
die kindliche Hysterie nicht genau dasselbe wie die Hysterie
der Frauen? Äußert sie sich nicht gerade so? Ist es also
nicht überflüssig, ihr eine besondere Beachtung zu schenken ?
Diese Fragen muß man ohne Weiteres verneinen. Sogar
große Unterschiede bestehen zwischen der Hysterie der
Frauen und der Kinder — welche, das werden wir hernach
sehen.
') Briquet: a. a. 0.