32
Erziehung. Alles hat sich im Hause um das Kind gedreht,
man hat ihm in jeder Weise den Willen gethan, es ist
möglich, daß dieser Umstand allmählich eine derartige
Willensschwäche und Energielosigkeit bei dem Kinde herbei
geführt hat, daß der Ausbruch der Hysterie kolossal erleichtert
wurde. Sicheres läßt sich jedoch darüber nicht sagen.
Die Diagnose der Hysterie, die in unserm Falle bei
den ausgesprochenen Symptomen und dem charakteristischen
Verlaufe leicht zu stellen war, bietet mitunter große
Schwierigkeiten.
Schon von der Hysterie bei Erwachsenen sagt Charcot: ‘)
„L’hysterie imite presque toutes les maladies qui arrivent
au genre humain; car, dans quelque partie du corps qu'elle
se rencontre, eile produit aussitöt les symptömes qui sont
propres ä cette partie. Et si le medecin n’a pas beaucoup
de sagacite et d’experience, il se trompera aisement et attri-
buera ä une maladie essentielle et propre ä teile ou teile
partie des symptömes qui dependent uniquement de l’affection
hysterique“.
Und bei Kindern ist dieselbe noch viel schwieriger,
da gerade die die Diagnose erleichternden hysterischen
Stigmata bei ihnen oft fehlen, da typische Anfälle relativ
selten Vorkommen, und da vor allen Dingen bei Kindern
sich sehr oft nur ein einziges Symptom zeigt. Dieses Eiuzel-
symptom dann sofort als hysterisch zu erkennen ist mit
unter garnicht so leicht.
Diagnostische Irrtümer inbezug auf die Hysterie können
in zweierlei Richtung Vorkommen: Entweder kann man ein
organisches Leiden — besonders des Nervensystems —
fälschlich für Hysterie halten; zweitens kann man umgekehrt
ein solches organisches Leiden annehmen, während in Wirk
lichkeit eine Hysterie vorhanden ist. Und ein solcher Irrtum
ist sehr leicdit zu erklären, da die Hysterie sich oft mit andern
Atfektiouen und auch mit organischen Erkrankungen des
Nervensystems sehr oft verbindet.
*) Charcot: (Evres completes. Tome III. Paris 1890.