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möchte ich auf das verweisen, was Binswanger und Siemer-
ling 1 ) in dem Kapitel „die hysterische Seelenstörung“ über
die sog. „psychischen Stigmata“ sagen: Erregbarkeit im
Affekt, Beeinträchtigungsideen, mangelnde Reproduktionstreue,
Stimmungswechsel, Alles das haben wir hier. Ist das noch
nicht „charakteristisch“ genug?
Ebenso interessant wie der ganze Verlauf ist auch die
Ätiologie unseres Falies, insofern, als sich nichts Be
stimmtes dafür anführen läßt.
Ich sprach vorhin von einer Prädisposition und einer
Gelegenheitsursache.
Zunächst über die erstere. Von einer direkten Ver
erbung kann in unserm Falle keine Bede sein, die Eltern
des Kindes sind angeblich beide gesund; und nur aus dem
etwas „eigentümlichen Charakter“ des Vaters, den dieser
bei der Abgabe der Anamnese zur Schau trug, und aus
seinem „eigentümlichen Wesen,“ das er in verschiedenen
Briefen an den Tag legte, einen Schluß auf eine eventuelle
geistige Minderwertigkeit desselben zu machen, dazu sind
wir doch wohl nicht berechtigt.
Die Disposition kann also nur noch „erworben“ sein.
Daß wir den Graviditätspsychosen der Tante des Kindes
einen derartigen Wert beilegen können, glaube ich nicht.
Das einzige, was in Betracht kommen kann, ist meiner
Meinung nach der langjährige Lungenkatarrh des Kindes
selbst, bei dem es sich vermutlich um eine Phthise gehandelt
haben wird. Es ist leicht möglich, daß durch ihn die
Konstitution des Kindes derartig geschwächt worden ist, daß
wir von einer Prädisposition reden können. Man hat ja
auch häufig bei Phthisikern psychische Störungen gefunden.
Und die äußere Veranlassung? Die kennen wir ebenso
wenig oder noch viel weniger.
Da ist keine Gemütsbewegung, da ist kein Trauma,
was wir heranziehen könnten, die Nachahmung kommt hier
nicht in Betracht, das Einzige wäre vielleicht die falsche
) Biswanger u. Siemerling: Lehrbuch der Ps5 r chiatrie. Jena 1904.