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Das sind so ziemlich alle Symptome, die die kindliche
Hysterie zeigen kann. Es ist nun aber keineswegs nötig,
daß sie bei jedem Fall alle da sind. Im Gegenteil, sie sind
es fast nie, und das ist gerade das Charakteristische
der kindlichen Hysterie. Während die Hysterie beim
Erwachsenen durch die unendliche Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen charakterisiert ist, haben wir beim Kinde
meist die sogenannte „monosymptomatische Form“,
die „forme fruste“, wie sie die Franzosen nennen. Nur
eine einzige Krankheitserscheinung — etwa
eine Lähmung, eine Kontraktur, ein eng umschriebener
Krampf besteht — sonst findet sich Nichts.
Namentlich fehlen sehr oft die für die Differential
diagnose so wichtigen, von Charcot so genannten „hyste
rischen Stigmata,“ das sind gewisse Symptome, die aus der
übrigen Menge mit so besonderer Häufigkeit hervortreten,
daß sie als für die Hysterie charakteristisch angesehen
und daher in diagnostischer Beziehung als besonders wertvoll
aufgefaßt worden sind.
Auch die eigentlichen „hysterischen Anfälle“ fehlen
beim Kinde sehr oft, sind jedoch, wenn sie da sind, dadurch
charakterisiert, daß sie einmal sehr häufig, bis zu 20 an
einem Tage, auftreten, andrerseits nur von sehr kurzer
Dauer sind.
Aber wenn auch die kindliche Hysterie gerade diese
Hauptmerkmale oft vermissen läßt, so ist dafür das Einzel-
und oft einzige Symptom eines Falles so drastisch und in
die Augen fallend, daß es sofort als hysterisch zu erkennen ist.
Um nun zu sehen, inwieweit das hier Gesagte sich in
der Praxis bewahrheitet, führe ich jetzt einen Fall an, der
in der hiesigen Psychiatrischen und Nervenklinik zur Be
obachtung kam, und den Herr Geheimrat Si einerling
die Liebenswürdigkeit hatte, mir zur Veröffentlichung zu
übergeben.
Es handelt sich um die 12'/2jährige Lehrerstochter
Minna Th., aufgenommen am 4. April 1904, entlassen am
25. März 1905.